Ein Tag in Jörg Baiers Leben

Seitdem seine Freundin einen neuen Job hat steht Jörg Baier frühzeitig auf: zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Sie nehmen zusammen ihr Frühstück ein, dann muss sie los. Nun ist er alleine. Er räumt den Tisch auf, streift ein paar Gummihandschuhe über, macht den Abwasch und fegt noch ein wenig. Er räumt dann die herumliegenden Kleider auf und repariert einige Dinge in der Wohnung. Es ist halb neun, wenn er die tür schließt, um zwei Stock höher in sein Atelier zu gehen. Dort schaut er. Er hängt auf, er schaut, er bewohnt den Ort. Es ist eine sehr wichtige Tätigkeit: schauen, was da ist. Seine Arbeiten, aber auch die in Katalogen, von anderen. Mittags geht er runter, um sich was zu kochen, was er schnell isst, danach arbeitet er bis achtzehn Uhr.

Sein Atelier ist eine kleine, sehr saubere Mansarde unterm Dach. Man muss sagen, dass Jörg Baier sehr gut organisiert ist. Um den Raum optimal zu nutzen hat er sein Werkzeug, anstatt es in einer Kiste zu lassen, im Eingang an eine unbenutzte Wand festgenagelt. Über der Tür hat er Holzleisten angeschraubt, um seinen Vorrat an Papierrollen aufzubewahren. Die fertigen Werke werden in der Wohnung gelagert, in einer kleinen Kammer unter dem Badezimmer, die über eine Bodenklappe hinter der Badewanne zugänglich ist. Aber bevor sie als fertig gelten, warten die Zeichnungen in einem bestimmten Übergangsort darauf, dass ihr Schicksal sich entscheidet – dass sie aussortiert oder überarbeitet werden – und zwar in einer als Purgatorium genutzten Ecke des Ateliers. Dort wählt Jörg sie aus, wenn er morgens ankommt, bevor er sie an die Wand hängt und stundenlang betrachtet.

Gestern hat er seinen ersten Papiereinkauf in Belgien getätigt, nach zwei Jahren. Früher kaufte er Hahnemühle bei Boesner, in Deutschland. Aber gestern hat er Canson bei Schleiper gekauft. Die Papieroberfläche ist offener, weniger gestrafft. Es wird wahrscheinlich Auswirkungen auf seine Malerei haben. Jörg verwendet viel Papier. Er macht viele Proben und er wirft auch viel weg.

Zunächst hängt er vier oder fünf Blätter an die Wand und zeichnet ein Motiv mit Ölpastell, das gleiche auf jedes Blatt. Das geht relativ schnell. Dann schaut er sie an.

Heute ist es ein viereckiger Zikkurat-Turm mit drei Stockwerken. Auf dem Schreibtisch liegt die Kopie eines Piranesi-Druckes von einer römischen Ruine, die ihn sicher inspiriert hat. Auf der mittleren Etage, setzt er mit zunehmend sicherer Geste eine Palme auf jede Seite des Turms. Jetzt könnte man sich nach Kairo versetzt fühlen, oder nein … eher nach Mexiko!

Dann breitet er eine Folie auf dem Boden aus und legt die Zeichnungen darauf. Er zieht seine Latexhandschuhe an. Mit Tusche, Gouache, Aquarell- und Acrylfarben fängt er an, Flecken zu machen. Zurzeit interessiert er sich für Schmutz. Keine bunten Farben mehr. Er verwendet viel Wasser. Er benutzt auch Sprays. Es ist ein Spiel mit dem Zufall: er beobachtet, wie das Papier die Farbe annimmt. Wo Pastell oder Wachs ist, da bleibt nichts haften. Das Resultat sieht wie verwaschene Textilien aus, oder wie Schimmel.

Irgendwann entscheidet Jörg, dass es reicht und er nimmt die Wasserreste mit einem Stück Stoff ab. Dann befestigt er die Blätter an einer gegen die Wand gelehnten platte und schaut ihnen beim trocknen zu. Es sind sehr atmosphärische Bilder. Hier sind wir mitten in der Nachmittagshitze einer staubigen Stadt im norden Afrikas. Da ist es nachts, der Mond leuchtet auf die Ruinen einer verschwundenen Zivilisation, von der nur noch der Duft gegrillter Speisen und der Klang der Congas übrig bleiben. Und dort ist der Turm eines der wenigen Gebäude, die trotz des Kugeleinschlags den Flammen noch standhält, und die Palmbäume sind die einzigen Überlebenden eines blutigen Krieges. Und da, ach, sind wir mitten in den 70er Jahren, auf einer Reise in Amazonien, wir haben eben eine große Schale Ayahuasca getrunken, die Landschaft wankt, wir sind an der Grenze zwischen höchster Ekstase und dem Beginn eines Höllentrips!

Bis es trocknet blättert Jörg in einigen Katalogen. Die Kunstgeschichte ist ein Fluss, in dem er die Bilder fischt, die ihn interessieren: eine Welle von Edgar Arceneaux, ein Fels von Andrea Previtali, eine nicht identifizierbare Form in einer Zeichnung von Wolf Huber … Man bemerkt bei ihm einen Hang zu Ruinen, diese Werke des zeitlichen Übergangs haben es ihm schon immer angetan, diese zu touristischen Sehenswürdigkeiten gewordenen Spuren der Vergangenheit. Seitdem er in Brüssel ist, sind es immer die gleichen Bücher, er hat hier keine so umfangreichen Bibliotheken wie in Karlsruhe gefunden. Aber schlecht ist das nicht. So kann er sich auf seine Arbeit konzentrieren. Er stellt einen Tisch in die Mitte des Raums, zieht weiße Baumwollhandschuhe an und holt seine Fotos raus.

Jeder Abzug ist sorgfältig in ein Blatt Seidenpapier eingehüllt. Als er hier ankam, hatte er kein Atelier, also machte er kleine Formate und erfand eine neue Technik, um Bilder herzustellen. Er hatte einen Riesenspaß bei dieser Serie, wie ein Kind. In Wirklichkeit sind es keine echten Schwarz-Weiß-Fotos, sondern eher Collagen, die er mit einem Scanner und einem Drucker anfertigte. Er benutzte Fotokopien von Fotos, Fotos von Objekten oder sogar Objekte, die herumlagen, legte sie auf den Scanner, und schwupps. Es sind collageartige Bilder, die er eher durch Schichtung als durch Wegschneiden herstellte und dabei Teile verdeckte. So steht ein Maskenstück von Oskar Schlemmer, das selbst von einer Silberplatte verdeckt wird, neben Grill- und Mikadostäben sowie einem Teil der Heidelberger Schlossruine, und alle führen gemeinsam ein mechanisches Ballett auf und pfeifen darauf, was das alles wohl bedeuten mag.

Normalerweise müsste Jörg jetzt zum letzten Arbeitsschritt übergehen: bei dem er mit Handwerker-Handschuhen und Stahlwolle das Ölpastell abkratzt. Aber gleich fängt sein niederländisch-Kurs an, also verschiebt er das auf morgen früh, dann wird er für diese körperliche Arbeit fitter sein. Seitdem er in Belgien ist, hört er französisches Radio und nimmt niederländisch- Unterricht, und mit den Ausländern, die er trifft, redet er Englisch. Ist es vielleicht das, was ihn in seiner Malerei so sehr zum Reisen veranlasst?

Eléonore Saintagnan, 2014

Übersetzt aus dem Französischen von Julia Walter